Türkische Bomben auf die Êzîdî in Sinjar/Şingal

Die Türkei greift die Êzîdî in der Region Sinjar/Şingal im Irak und die kurdischen Gebiete in Syrien mit der Luftwaffe an.

Bis zu 15 Luftschläge soll die türkische Luftwaffe nach Augenzeugen aus Sinjar/Şingal gegen Stellungen von kurdischen und êzîdîschen Einheiten heute Nacht durchgeführt haben. Betroffen waren davon aber auch ZivilistInnen. Êzîdîsche Flüchtlinge berichten, dass sie in der Nacht von den Einschlägen der türkischen Bomben aus dem Schlaf gerissen worden sind. Die Luftschläge erfolgten laut êzîdîschen Quellen in der Nähe mehrere Flüchtlingslager, in denen sich seit August 2014 tausende êzîdîsche Flüchtlinge aufhalten. Bis 4:00 Uhr morgens hätte die türkische Luftwaffe die Region bombardiert. Eine genaue Opferzahl liegt bislang nicht vor. Êzîdî aus der Region sprechen von etwa 20 Opfern.
Sinjar/Şingal als Spielball der regionalen Konflikte
Als „Kampf gegen den Terror“ betrachtet die türkische Regierung einmal mehr ihre heute Nacht durchgeführten Luftangriffe auf die kurdischen Gebiete in Syrien (Rojava) und die Siedlungsgebiete der Êzîdî in Irakisch-Kurdistan. Tatsächlich richteten sich die in der Nacht geführten Militärschläge gegen die in Syrisch-Kurdistan regierende Schwesterpartei der PKK, die Demokratische Unionspartei PYD und die von dieser gegründeten Volksverteidigungseinheiten YPG, sowie gegen eine mit der PKK verbündete Miliz der Êzîdî, die Widerstandseinheiten von Şingal YBŞ. Letztere hatte gemeinsam mit der YPG und PKK im Sommer 2014, als der so genannte Islamische Staat die Êzîdî in Sinjar/Şingal überfiel eine wichtige Rolle bei der Rettung der Überlebenden auf dem Berg Sinjar/Şingal gespielt. Seither sind die YBŞ eine von mehreren Milizen, die in der Region präsent sind. Die Spannungen zwischen YBŞ und den Peshmerga der PDK (mit den HPÊ von Heydar Şeşo dazwischen) waren schon im Sommer 2016 unübersehbar. Auch die Spannungen in Syrisch-Kurdistan (Rojava) zwischen PYD/YPG und Kurdischem Nationalrat haben in den letzten Monaten zugenommen. Die innerkurdische Rivalität zwischen Masud Barzanis PDK aus dem Irak und der PKK spitzt sich seit Monaten gerade in Sinjar/Şingal zu. Anfang März kam es in diesem Zusammenhang auch zu einer kurzen militärischen Auseinandersetzung zwischen den von Masud Barzani ausgerüsteten und unterstützten sunnitischen Rojava Peshmerga und den YBŞ.
Kriegspartei Türkei
Die Luftangriffe der Türkei dürften in diesem Konflikt eine neue Eskalationsstufe darstellen. Heute Nacht ging es nicht mehr um einen innerkurdischen Konflikt. Vielmehr erhält der Konflikt durch den türkischen Angriff und dessen Verurteilung durch den Irak eine internationale Komponente. Zu den Toten auf kurdischer Seite zählen diesmal auch keineswegs nur Angehörige er YBŞ, sondern neben ZivilistInnen angeblich auch Angehörige der Peshmerga, also der zu Masud Barzanis Regionalregierung Kurdistans zählenden Rivalen der YBŞ.
Die Türkei greift damit zu einem Zeitpunkt militärisch ein, in dem in der Region die Kämpfe gegen den so genannten Islamischen Staat an Intensität gewinnen. Viel wichtiger dürfte allerdings wohl die Tatsache sein, dass Präsident Erdoğan innenpolitisch durch den knappen – und von Wahlfälschungsvorwürfen begleiteten – Ausgang seines Referendums unter Druck gekommen ist und mit seinem „Kampf gegen den Terror“ einmal mehr auf die nationalistische Karte setzen will. Die Leidtragenden dieser Politik sind jene, die sich am wenigsten wehren können: Die Opfer des Genozids von 2014, die Êzîdî von Sinjar/Şingal.

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